Wann läuten Glocken?
Die Bedeutungen des Kirchenläutens sind uns allen – auch mit ihren langen
Traditionen – doch weitestgehend vertraut: Nach Hans-Martin Balz, Glockensachverständiger der EKHN1, sind dies
• die Einladung der Gläubigen zum Gottesdienst,
• während des Gottesdienstes der Hinweis auf
bestimmte Vorgänge (Vaterunser, Sanctus,
Taufe, Einsegnung, Trauung) – verbunden mit
dem Aufruf der nicht in der Kirche Anwesenden
zum teilnehmenden Gebet, und
• mehrmals täglich die Mahnung zum Gebet.
Wie Herr Balz so anschaulich in seinen Hinweisen schreibt, sind Glocken „die verbreitetsten und größten Musikinstrumente“. Jede Glocke für sich hat ihren eigenen Klang, und im Zusammenwirken der verschiedenen Glocken entstehen in jedem Kirchenturm ganz individuelle Klangwelten.
Wie nun aber konkret die vier Bergkirchenglocken zu den einzelnen Anlässen läuten, legt die Läuteordnung fest, welche jede Kirchengemeinde über Beschlüsse ihres Kirchenvorstands für sich selbst definiert, sicherlich unter Beachtung der über die Jahrhunderte hinweg entstandenen Traditionen, aber eben auch unter Berücksichtigung der besonderen regionalen Gegebenheiten.
Der Kirchenvorstand der Bergkirche hat sich deshalb im Jahr 1992 intensiv mit der Läuteordnung, auch unter Hinzuziehung des
Glockensachverständigen der Landeskirche, befasst. Hannes-Dietrich Kastner schreibt im Gemeindebrief vom April 1992: „Ausgangspunkt unserer Überlegungen war die Einsicht, dass es sich bei Glocken um Musikinstrumente handelt und dass es lohnend ist, dieses Instrumentarium in seinen reichen Möglichkeiten zu nutzen.“ Die variierte Läuteordnung mit dem Resultat teilweiser neuer Klänge hat damals zu Nachfragen geführt – „ob das Läuteprogramm gestört sei oder die Küsterin ihren Dienst aufgegeben habe“2. Die im November 1992 beschlossene Läuteordnung ist auch heute noch maßgebend für das Geläut der Bergkirche, welches uns inzwischen nach fast zwanzig Jahren sicherlich gut vertraut ist. Nachfolgend auszugsweise einige Läuteregeln entsprechend den Anlässen zum Läuten und in Anlehnung an die Anmerkungen Pfarrer Kastners zur neuen Läuteordnung im April 1993.
Im Glockenturm rechts unten: „Gloria“, die größte und trotz ihrer immerhin 50 Jahre die jüngste der vier Glocken der Bergkirche. Ton e, 121,5 cm Durchmesser, ca. 20 Zentner, 1961
Rechts oben ist die kleinste und älteste Glocke angebracht: „Maria“ Ton c, 80 cm, 300 kg, 1463.
*”Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Friede den Menschen, die guten Willens sind”
Inschrift der Gloria-Glocke, der größten Glocke der Hochheimer Bergkirche
Gottesdienste an Sonn- und Feiertagen
Wie bereits erwähnt, folgt auch die Läuteordnung der Hochheimer Bergkirche in vielen Einzelheiten der Tradition – so etwa im Einläuten des Sonntags (samstags um 19.00 Uhr 8 Minuten die Glocken Maria, St. Peter und Martin Luther) oder beim Vorläuten eine Stunde vor Gottesdienstbeginn am Sonntag (die kleinste Glocke Maria) – und nochmals eine halbe Stunde bevor sich die Gemeinde im Namen des Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes versammelt (Maria und die nächstgrößere Glocke St. Peter). Zu Beginn des Gottesdienstes läuten ab 10.05 Uhr für 10 Minuten alle Glocken der Hochheimer Bergkirche – dies wird auch Zusammenläuten genannt, da hier alle Glocken beteiligt sind.
Diese Regelungen für den sozusagen „klassischen Sonntagsgottesdienst“ variieren bei Abend-, Vespergottesdiensten und an besonderen Feiertagen – besonders hervorheben möchte ich an dieser Stelle lediglich nochmals das Läuten an Karfreitag – hier ertönt nur eine einzelne Glocke, nämlich nur die große Gloria.
Glockenzeichen während des Gottesdienstes
Nach Hans Martin Balz sind diese ein uralte Sitte – das Läuten zum Vaterunser beispielsweise werde schon im Visitationsabschied von 1629 bezeugt1; in der Hochheimer Bergkirche erklingt während des Vaterunsers die kleine Marienglocke. Des Weiteren wird zur Taufe geläutet, ebenso zur Einsegnung bei Konfirmation und Trauung. Bei allen solchen Segenshandlungen, die einzelnen Menschen gelten,
läuten in der Bergkirche als sogenanntes Gruppengeläut die mittleren beiden Glocken (St. Peter und Martin Luther).
Läuten bei Beerdigungen
Hier ist zu unterscheiden zwischen dem Läuten anlässlich eines Sterbefalles, dem sog. Sterbeläuten, und dem Läuten zur Beerdigung. Beim Sterbeläuten erklingt für drei mal 2 Minuten mit Zäsuren die Glocke St. Peter, im Anschluss erfolgt nochmals ein 7minütiges Läuten dieser Glocke. Sie ist ebenfalls bei dem Weg zum Grab für 15 Minuten zu hören.
Läuten an Werktagen
Als tägliches Gebetsläuten erklingt die kleinste Glocke „Maria“ im Mittagsgeläut um zwölf Uhr (Friedensgebet) und zur Anzeige des Abends um achtzehn Uhr (Abendgebet). Auch das tägliche Gebetsläuten geht auf vielfältige und regional sehr unterschiedliche Traditionen zurück – Hans Martin Balz schreibt1, dass „das tägliche Läuten […] von Fall zu Fall nach der Jahreszeit und den Bedürfnissen der Bevölkerung abgewandelt“ wurde. In unseren Zeiten werde man „jedoch auch auf die heutigen Lebensformen achten“ – das extrem frühe Morgenläuten beispielsweise, welches in zurückliegenden Jahrhunderten teilweise bereits um vier Uhr erklang, wird sich in heutigen Läuteordnungen nicht mehr finden lassen – auch nicht in der Hochheimer!
Sie sehen also – die Art des Läutens und das Zusammenspiel der einzelnen Glocken sagt uns direkt etwas über den Anlass des Läutens. Dabei beginnt – wenn mehrere Glocken läuten – stets die kleinste. Im Falle der Bergkirche ist die kleinste gleichzeitig die älteste Glocke: „Maria“. Ausgeläutet wird in der gleichen Reihenfolge, d. h. die kleinste Glocke schweigt als erste, während die tiefste Glocke – in der Bergkirche die „Gloria“ – bis zuletzt läutet.
Im Turm der Bergkirche hat links oben „St. Peter“ seinen Platz: Ton a, 84,2 cm. 310 kg. Darunter schlägt „Martin Luther“ Ton g, 94,5 cm, 417 kg. Beide Glocken sind von 1950. Im Vordergrund angeschnitten zu sehen: „Gloria“.
Glocken – älter als die Kirchengeschichte
Dass auch das Geläut der Bergkirche auf jahrhundertealte Traditionen zurückgeht, wurde bereits mehrfach angesprochen – aber hätten Sie gewusst, wie weit die Geschichte der Glocken generell zurückreicht?
China darf man als Ursprungsland der Glocke vermuten, auch wenn sie wohl nie so richtig erfunden oder entdeckt wurde – so jedenfalls der Beratungsausschuss für das Deutsche Glockenwesen zu den Anfängen unserer heutigen Kirchenglocken. In Asien war die Glocke vor 5000 Jahren „einfach da“3. Und zwar in verschiedenen Funktionen – sowohl als Maßeinheit für Getreide als auch als tonangebendes Musikinstrument („Dem Orchester verhalf sie als ‚Stimmgabel‘ zum rechten Ton. Ihre Klänge galten als Bindeglied zwischen Himmel und Erde.“) und Signalgeberin für kultische Handlungen.
Die frühe Christenheit hat wohl die Glocken zunächst – wie auch alle anderen Musikinstrumente – wegen ihrer heidnisch-rituellen Bedeutung abgelehnt1. Paulus vergleicht den Menschen ohne Liebe tönendem Erz oder einer klingenden Schelle (so Hans Martin Balz – der zitierte Beratungsausschuss lässt für das Paulus-Zitat aber auch noch andere Deutungen zu!). Ab dem 4. Jahrhundert nach Christus aber werden Glocken in den entstehenden Mönchsgemeinschaften als Signalgeber zum gemeinsamen Gebet und den Gottesdiensten eingesetzt – ausgehend wahrscheinlich von den koptischen Mönchsgemeinschaften in Ägypten, welche wohl als Erste die Glocken in ihren liturgischen Dienst nahmen1, 3. Wie Hans Martin Balz weiter ausführt, haben die Weltkirchen diesen Brauch übernommen, und ab dem 6. Jahrhundert verbreiteten sich die Glocken – ausgehend vom Orient – über Frankreich und Italien in ganz Europa.
Krieg entfremdet selbst Glocken ihres Zweckes
Dabei durften die Kirchenglocken im Laufe der Jahrhunderte nicht immer bei ihrer eigentlichen Bestimmung – dem Läuten zu Gottesdiensten und Gebet oder in früheren Zeiten noch verstärkt zum Ordnen des täglichen Lebens (wobei ja auch heute noch die Glockenschläge uns – ganz profan – die Uhrzeiten angeben) – bleiben: In Kriegszeiten war das Einschmelzen der Kirchenglocken und das Herstellen von Kriegsmaterial, vorrangig wohl von Kanonen, immer wieder ein häufig eingesetztes Verfahren zur Unterstützung der Kriegsmaschinerie.
Auch Glocken der Hochheimer Bergkirche blieben hiervon nicht verschont – Pfarrer Jobst Bodensohn4 schreibt in einem Exkurs über die Glocken der Hochheimer Bergkirche, dass aufgrund einer am 9.7.1917 ergangenen Anordnung an alle Kirchengemeinden die kleinere der beiden Kirchenglocken aus dem Jahr 1885 für die Einschmelzung zu Kriegszwecken abgegeben werden musste. Auch die drei im Jahr 1924 neu angeschafften Glocken entgingen diesem Schicksal nicht – 1943 wurden auch sie zu Kriegszwecken dem Staat übereignet. Das neuerliche Opfer der Glocken erwies sich dabei – so Pfarrer Jobst Bodensohn in seiner Abhandlung – als ebenso sinnlos wie das im Jahre 1917 gebrachte – Zeilen, denen man auch heute noch mit dem Abstand von Jahrzehnten uneingeschränkt zustimmen kann.
Eine neue Zeit wird eingeläutet
Was empfinden Sie, wenn Sie das Geläut der Bergkirche hören, sei es als Einladung zum Gottesdienst, oder vielleicht auch einmal zu nächtlicher Stunde, wenn der Schlaf mal fern bleibt und man die einzelnen Glockenschläge mitzählt, um sich die aktuelle Stunde zu vergegenwärtigen? Für die meisten von uns sind es wohl vertraute und beruhigende Klänge.
Aber auch ein anderes Erleben ist möglich – lassen Sie mich mit einem – wie ich finde sehr anrührenden – Gedicht von Dietrich Bonhoeffer enden: „Nächtliche Stimmen in Tegel“ aus den Briefen und Aufzeichnungen aus der Haft im Gefängnis Tegel , Juni 1944, aufgezeichnet in „Widerstand und Ergebung“, GTB3. Dietrich Bonhoeffer war es leider nicht vergönnt, das Ende des 2. Weltkrieges und das Entstehen eines freien demokratischen Staates in einem friedlichen Europa zu erleben – uns begleiten die Kirchenglocken in – vergleichsweise – guten Zeiten durch den Tag und in eine – so hoffen wir – gute Zukunft.
Christine Ripier-Kramer
Zwölf kalte, dünne Schläge der Turmuhr wecken mich.Kein Klang, keine Wärme von ihnen bergen und decken mich.Bellende, böse Hunde um Mitternacht schrecken mich.Armselige Geläute trennt ein armes Gestern vom armen Heute.Ob ein Tag sich zum anderen wende,der nichts Neues, nicht Besseres fände,als daß er in Kurzem, wie dieser ende …Was kann mir´s bedeuten?Ich will die Wende der Zeiten sehen,wenn leuchtende Zeichen am Nachthimmel stehen,neue Glocken über die Völker gehenund läuten und läuten …
Fotos: bk
Quellennachweis:
(1) – Läuteordnungen und ihre Bedeutung; Geschichtliche und praktische Hinweise zum Gebrauch der Kirchenglocken von Hans Martin Balz, Glockensachverständiger der EKHN (aus Kirchenmusikalische Nachrichten des Amts für Kirchenmusik, Frankfurt Jahrgang 43, Nr.3, Juli/Sept. 1992) – Internetveröffentlichung über www.musicanera.de
(2) – Gemeindebrief der Ev. Kirchengemeinde Worms-Hochheim, Heft 8, April 1993, Hannes-Dietrich Kastner, „Eine neue Läuteordnung“
(3) – www-glocken-online.de, offizielle Web-Site des Beratungsausschusses für das Deutsche Glockenwesen – Ausschuss der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz
(4) – Gemeindebrief der Ev. Kirchengemeinde Worms-Hochheim, Heft 4, Oktober 1991, Artikel „Gloria in excelsis Deo – Von unseren Glocken“, Auszug aus dem Büchlein über die Bergkirche St. Peter zu Worms-Hochheim von Pfr. Jobst Bodensohn, 1965